Michael Oswald
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Lesereise, subjektiv 2022 im Mai Samstag, 14. 5. 2022
An diesem Tag habe ich nur 28 Seiten gelesen, was der Ankündigung
nicht ganz entspricht. Dafür war es ein voller und ein glücklicher
Tag. Ich fang mal mit dem Buch an, es geht um einen schmalen Roman
von Antonio Skármeta, "Mit brennender Geduld". Er lässt einen
17-jährigen Dorfbengel dem schon berühmten chilenischen
Nationaldichter Pablo Neruda begegnen. Da der Junge keine Lust hat,
Fischer zu werden wie sein Vater, verdingt er sich als Postbote, um
einmal täglich Briefe da abgeben zu können. Irgendwann gibt es ein
Gespräch, das wird sich fortsetzen, und es ist bis dahin so
wunderbar geschrieben, dass ich wirklich Lust habe, weiter zu lesen. Bocksriemenzunge Helmknabenkraut Zweiblatt Fliegenragwurz Osterluzei Ehrenpreis Kreuzblume Die Beute
Mittwoch, 18. 5. 2022
Am Morgen, zum Frühstück las ich das kleine Buch von Skármeta
aus und wollte eigentlich gleich wieder von vorn anfangen. Das Buch
schildert die letzte Zeit vor dem Putsch in Chile, bei dem der
demokratisch gewählte Präsident Allende vom Militär gemordet wurde,
endet in den Tagen nach den Putsch mit dem Sterben des Dichters
Neruda. Das war die eingearbeitete politische Situation, wichtiger
noch war das alltägliche Kleinklein. Der weltberühmte Poet (Canto
General stammt aus seiner Feder, wurde von Theodorakis vertont)
hatte sich zurückgezogen auf das Dorf, kam gut zurecht mit den
Menschen da, sie auch mit ihm. Mit dem Postboten freundete er sich
an, es entstand Gespräch und Anteilnahme. Einer der schönsten
Momente ist, wie der Schriftsteller die Dorfwirtin ein Gedicht für
wahr und richtig befinden lässt, es geht um die feurige Beschreibung
der nackten Schönheit einer Tochter, der Postbote singt mit diesen
Versen die Tochter der Wirtin an, eleganter und großzügiger ist
selten ein Dichter von einem Schriftsteller gelobt, gewürdigt
worden. Bei aller Tragik des Verlaufes, so liebevoll empathisch ist
der ganze Roman durchwirkt und hat mir beim Lesen Genuss bereitet,
mich mehrfach zum Loskichern gebracht.
Freitag, 17. 6. 2022
Gelesen hab ich, immer weiter, mittlerweile ist das sechste Buch
fast fertig. Am Schreiben hing es. Oder um das besser zu begründen,
es fehlte die Zeit. Das scheint ein Dauerthema in meinem Leben zu
sein. Daran habe ich einen Anteil, kann es nicht nur auf die Arbeit
und den Sport schieben, auch das Lesen kostet diese und jene vielen
Stunden, dazu kommt eine ephemer ausbrechende Unlust, überhaupt was
zu tun. Also sich zu regen. Das Bett zu verlassen oder das Sofa,
weil diesen Halbstunden im Nichtstun vertrödelt eine süchtigmachende
Köstlichkeit inne wohnt. Ist es abends soweit, dass Stillheit
ausbricht, geht manches Mal ein gutes Stück der Nacht, die
eigentlich dem Schlafe dienen soll, verloren. So ist das heutige
Aufraffen, zu liefern, nicht gering zu achten.
Jojo Moyes, "Die Frauen von Kilcarrion", versehen mit dem Etikett SPIEGELBESTSELLER, darauf fall ich jedesmal rein. Wenn der Bepper drauf ist, nehm ich´s mit. Irgendwelche Geheimnisse sind angekündigt, so weit bin ich nicht gekommen. Wegen überwältigender Harmlosigkeit musste ich die Lektüre nach ca 60 Seiten beenden, nachdem ich vorher schon solche Gelüste hatte, mich tapfer gezwungen hab, immer noch ein Stückchen zu lesen. Mir hat sich nicht erschlossen, was die Autorin mitzuteilen hat, die Nichtigkeiten läppern ohne erzählerische Finesse weiter, ich kam mir vor, als würde ich meinem Nachbarn zuschauen müssen, wie er alle Tage seine Felgen poliert. Da hab ich dann wo anders hingeschaut.
Samstag, 18. 6. 2022 Richtig, so schnell kann ich nicht lesen, aber es liegt noch zu beschreibender Vorrat auf Halde. Da greif ich jetzt für einen Verriss in meine reichlich gefüllte Boshaftigkeitskiste rein. Mo Hayder liefert den Thriller 2006, "Die Sekte", ein nicht ganz frischer Titel. Die Arbeitsanweisung für dieses wirre Machwerk lautete vielleicht, nimm ein paar Dachlatten und bau ein funkelndes Hochhaus. Es hat nicht funktioniert. Die Inhaltsangabe spar ich mir, man kann lesend den roten Faden schon verfolgen, obwohl eine Welt geschildert wird, mit der würde ich nicht zu tun haben wollen. Nicht sonderlich kriminell, auch sektentechnisch eher uninteressant, weil herbeikonstruiert, wahrscheinlich aus irgendwelchen Pressemeldungen über das skurrile Leben irgend welcher Vereinigungen in Amiland. Am Ende war alles ganz anders, natürlich, ein Knaller beendet die Misere. Verstörend und eindringlich, steht hinten drauf, verstörend war es schon, so was als Buch zu finden, man braucht es nicht. Wieder war es der Aufkleber vom Spiegelbestseller, der mich anlockte, ich wäre sehr neugierig, wie der da draufkommt, irgendwer muss es für gut bewertet haben.
Sonntag,19. 6. 2022 Leander Haußmann lieferte 2005 den kleinen Roman "NVA", von ihm ist auch Sonnenallee, der Kinofilm. Hier geht es um die Erlebnisse eines frisch Eingezogenen, er schöpft aus dem Fundus eigenen Erlebens und Erleidens. Köstlich werden die unzähligen Stumpfheiten des Dienstes an der sozialistischen Heimat beschrieben, die Schikanen der Dienstälteren an den Neuen, die Beklopptheiten der Agitation durch die Politoffiziere, die innere Verwahrlosung der ganzen Truppe durch die absolut sinnfreie Gestaltung der Grundausbildung und Zeitverbringung, immerhin 18 Monate des noch sehr jungen Lebens. Aufschlussreich, wie man einfach durch blöde Umstände zu kleinen und großen Bestrafungen kommt. Ein Zeitbild, das nachvollziehbar beschreibt, trotzdem merken lässt, dass es entstand, als der Mist vorbei war, keine Gefahr mehr drohte. Von Reiner Kunze gibt es "Die wunderbaren Jahre", eine 1975 entstandene Sammlung von Texten über das Lebensgefühl junger Menschen in der DDR, da wird eine andere Intensität und Authentizität spürbar, die existentielle Bedrohung durch Gängelung und politische Indoktrination wird markant deutlich. Hier bei Haußmann geht es oft lustig zu, das ist an sich kein Schaden, aber verfehlt manchmal die Inhaltlichkeit. Besonders stieß ich mich an der Erwähnung der Bestrafung von Soldat Krüger, der für eine Zeit nach Schwedt musste, beiläufig wird klar, dass dort in der unüblich kurzen Verweilung seine Persönlichkeit endete. Das Buch mäandert zwischen Unterhaltung und Zeitdokument unentschlossen hin und her, vielleicht ging es um eine gesamtdeutsche Lesbarkeit.
Dienstag, 5. 7. 2022
Was ist passiert? Es gab drei lesefreie Tage, nicht buchfrei, aber
keine einzige Zeile wurde erfasst, gar verstanden, obwohl ich beim
Wechseln der Sofaplätze das Buch dabei hatte. Wäre das ab hier immer
so, könnte man von einem gehörigen Einschnitt sprechen, so war es
Corona, und zum Glück ging das vorbei bis zum Zustand jetzt, wo
Lesen wieder lustvoll funktioniert. Ungefähr der 70. Test war
eindeutig positiv, bestätigt von den begleitenden Umständen, die
mich zum beschwerlichen Kriechtier verwandelt hatten. Das aktuelle
Buch ist von Peter Rühmkorf, es heißt "Der Hüter des Misthaufens",
darin sind aufgeklärte Märchen, eins schöner als das andere,
zusammengefasst. Mir fehlen noch drei, deswegen bespreche ich es
weiter hinten.
Nebenher läuft eine Mucke, ein Konzert von Neil Young aus 2014, da ist er schon fast siebzig, er tritt solo auf, kann anderthalb Stunden einen 1a Titel nach dem andern darbieten, singt, spielt Piano oder Gitarre und Mundharmonika. Die Stücke hat er alle selbst geschrieben, auch das noch. Für mich eine der Superlegenden der Musikgeschichte. Seine Melodien bleiben hängen, nicht nur bei mir, alle im Publikum können sie mitsingen und man kann hören, wie sie vergehen vor Sehnsucht und Liebe und Schönheit. Hier der Link
Mit diesem Vorhaben, gelesene Bücher kurz zu besprechen, entstand
ein weiterer Vorratsstapel, nämlich der der gelesenen Bücher. Da ich
nicht immer Lust oder Zeit habe, wenn ich ein Buch zuklappe, sofort
zu liefern, lege ich es also in den Vorrat zum Bild machen, ist das
erledigt, gibt es die Warteschleife in Sichtweite des Rechners. Wenn
vier Bücher liegen, ist der Notstand da, den Idealzustand von keinem
Buch hatte ich noch nicht. Deswegen heute noch ein zweiter Text:
Wieder die Geschichte mit dem Aufkleber vom Spiegelbestseller ...
Freitag, 8. 7. 2022 Wenn ich so weiter mache, bleibt der Stapel ausgelesener Bücher beherrschbar. Wenn. Wie schnell solche Annahmen und Gewissheiten ins Rutschen kommen können, beschreibt Susanne Röckel in ihrer Sammlung von neun Erzählungen, die sie unter dem Titel "der käfig" um 1994 erscheinen ließ. Mit den Klarheiten ist es schon beim reinblättern rum, da erscheint der Titel so: "Der Käfig". Die titelgebende Erzählung raunt mir noch zu sehr vom harten Schicksal, in uns gefangen zu sein. In den folgenden Geschichten geht es klarer und nachvollziehbarer zur Sache, irgendeine Störung, ein kleines Vorkommnis, zu meist wiedererkennbar, weil schon selbst erlebt, lässt es Röckel entgleisen, lässt sie von kleiner zu großer Wucht gelangen und wir können zuschauen, wie ihre Figuren meist mehr als weniger aus jeder Kurve fliegen. Das Scheitern ist oft grandios, viel interessanter sind die kleinen Stationen auf dem Weg von einem funktionierenden, angepassten Leben ins Abseits. Am eindruckvollsten war mir die Erzählung "Der Unfall". Eine mitten im Leben stehende, verheiratete Frau, beruflichlich erfolgreich, fährt von einem Fest heim, hört ein kleines Geräusch, einen Bumser beim Fahren. Liest zwei Tage später von einem Unfall, ein Kind wurde überfahren, der Verursacher beging Fahrerflucht. Sie geht zur Polizei, bekennt sich schuldig, hat die Tasche zum Einsitzen schon dabei. Fühlt sich nicht ernstgenommen, soll wieder heimgehen. Der Schuldige wird gefunden, gibt die Sache zu. Da sollte bei Cordula B. wieder alles in Ordnung sein. Am Ende stirbt C. B. in der Psychiatrie, sie kommt aus der Nummer nicht mehr raus. So kanns gehen. Ich fand es anstrengend zu lesen, nicht immer konnte ich den beschriebenen Abwegen folgen. Erzählerisch geht es gediegen zu, schon die Eröffnungssequenzen in jeder der Geschichten informieren umfassend. Ein Buch für hartnäckige Leser.
Beide Varianten, mit und ohne Schutzumschlag, spiegeln auf verschiedene Arten treffsicher den Inhalt, drum diesmal so ausführlich. Samstag, 16. 7. 2022
Corona ist durch, eigentlich hätte das in die andere Abteilung, die
vorschnell beendete, hineingehört. Ich hatte nicht mehr damit
gerechnet, auch nicht damit, dass es mich vollständig für zwei Tage
gelegt hat. Es tat alles weh, sogar im Liegen, mir war es zu hell,
Lesen ging nicht, Essen nicht, der Kaffee schmeckte fürchterlich,
das erste mal seit 50 Jahren. Ich war beeindruckt, fand das Leben
dieserart völlig sinnlos und hab mich an das Wissen vom Hörensagen
geklammert, es geht rum. Als am dritten Tag das Sichbewegen nicht
mehr wehtat, kam wieder Hoffnung auf, ich zog die Rollladen ganz
hoch und fing vorsichtig an mich zu ernähren. Siehe da noch drei
Tage später und immer noch mit dem Strichle bei der Positivanzeige,
hab ich mir einen Kuchen selbst gebacken, hab das Buch aufgeklappt
und gedacht, so kann es rumgehen.
Vor lauter Lesen ist der August bald rum und der Stapel zu besprechender Bücher hat ein kritisches Ausmaß gewonnen, so kommts halt, wenn man immer nur weiter liest ohne vernünftiges Innehalten. Am Ende werd ich noch vergessen, was alles drin stand. So beginnt hier der Versuch, dies Problem zu vermeiden. Schwuppdiewupp taucht da eine neue Fragestellung auf: Beginne ich mit dem zuletzt weggelegten Buch, wo der Eindruck ganz frisch ist, auf die Gefahr hin, dass Bücher, die schon lange warten, noch weiter in den Tiefen der Erinnerung, die immer auch mit einem gewissen Vergessen zu tun haben, sich mehr oder weniger Platz nehmen. Es handelt sich um ein freiwillig und selbst erzeugtes Problem, für das es mehrere Lösungen gäbe, die ich anscheinend alle nicht will. Ich könnte das Lesen lassen, könnte das Beschreiben lassen, könnte das Beschreiben disziplinierter aktuell halten, tja, da mach mal was. 21. 8 2022 Da war es schon lange ausgelesen, hätte besprochen werden müssen, blieb hängen. Dabei war es ein Lesegenuss.
Höchst präzise, manchmal poetisch von vergehender Jugend in vergehendem Staate wird erzählt, aus persönlicher Sicht, darin die Sicht auf die Entwicklungen, Verwicklungen im Europa der ersten und zweiten Vorkriegszeit. Die Möglichkeit des sich Entfernen aus der Reise Österreichs in den Faschismus bedeutet das Verlassen des ureigensten Erzählraumes. Damit sind auch die Leser weg. Immerhin war die finanzielle Möglichkeit gegeben, rauszukommen, andere endeten gemordet. Der Lebenswillen war trotzdem aufgebraucht, nach geglückter Flucht, bis Brasilien schafften sie es, 1942 setzte er zusammen mit seiner zweiten Frau den Schlusspunkt, verzweifelter Überdruss über den Zustand Europas. Da war er 61, mein Alter, hätte noch Zeit gehabt zu schreiben, es ging nicht mehr. Die Schilderungen von dem geistig freien Leben nach der Jahrhundertwende, die Vernetzung mit anderen Schreibenden und Künstlern, das Aufbrechen nach dem ersten Weltkrieg und die darauf folgende Entwicklung, als Denkverbote einsetzten, zunahmen, alles verhinderten, das ist, auch wenn es lang her ist, eine höchst lebendige, nachvollziehbare und heute mahnende Geschichtsstunde, die es in der Qualität und Intensität nicht so oft gibt. Unbedingt lesen, zumal die Sprache von solcher Schönheit und Treffgewissheit glänzt, dass das Lesen zum Vergnügen gerät. 16. 9. 2022 Ebenfalls dringend nachgereicht:
Sehr informativ, leicht zu lesen und zu verstehen, hinterher, weiß man, dass man niemals allein unterwegs ist. Die Größenverhältnisse sind verblüffend, noch mehr die schiere Menge, unvorstellbare Zahlen von kleinen Lebewesen an allen Stellen. Auf eine Körperzelle, die meine ist, kommen so viele Mitbewohner meines Leibes, dass ich mich mit diesem Wissen nicht mehr als Individuum empfinden kann, dafür akzeptiere, ein vielfältiges Biotop zu sein. Ich zitiere mal:" eine Lebensform aus 988 Spinnentieren, 100 000 000 003 009 Bakterien, 1 Mensch, 74 Amöben und 497 Madenwürmern." Ob das jetzt so ganz stimmt, das Buch kam 2000 raus, wahrscheinlich kann man mittlerweile mehr Arten benennen und auszählen, ist eigentlich egal. Jedenfalls ist mir ganz klar, dass ich beim Käckerchen ganze Heerscharen von Insassen entlasse, die sich umgehend durch die Vermehrung der verbliebenen Gesellschaften ersetzen. Neu war mir die Beschreibung einer porenbewohnenden Wurmart, ich muss lachen, wenn ich mir vorstelle, wie aus meinen Nasenkratern wie kleine Regenwürmchen rausschauen und Luft schnappen. Vielleicht. Jedenfalls ein erstaunlich gut funtionierendes Zusammenleben.
Endet hier, das Vorhaben funktionierte nicht.
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