Michael Oswald

 

 

 

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Lesereise, subjektiv

2022 im Mai

Samstag, 14. 5. 2022

An diesem Tag habe ich nur 28 Seiten gelesen, was der Ankündigung nicht ganz entspricht. Dafür war es ein voller und ein glücklicher Tag. Ich fang mal mit dem Buch an, es geht um einen schmalen Roman von Antonio Skármeta, "Mit brennender Geduld". Er lässt einen 17-jährigen Dorfbengel dem schon berühmten chilenischen Nationaldichter Pablo Neruda begegnen. Da der Junge keine Lust hat, Fischer zu werden wie sein Vater, verdingt er sich als Postbote, um einmal täglich Briefe da abgeben zu können. Irgendwann gibt es ein Gespräch, das wird sich fortsetzen, und es ist bis dahin so wunderbar geschrieben, dass ich wirklich Lust habe, weiter zu lesen.
Ansonsten war volles Programm, anderes stand auf meinem Plan. Höhepunkt war ein Termin in Hirschau, bei schönstem Wetter bin ich rüber geradelt, der Treffpunkt war am Parkplatz beim Friedhof. Da sollte eine Führung starten zu den Orchideen auf dem Spitzberg. Es waren erstaunlich viele Menschen da, allesamt in den besten Jahren, ein Führer vom Kolpingwerk hat uns geleitet. Nach der Durchquerung des Friedhofs ging es schon los mit der Bocksriemenzunge, eine stattliche Pflanze, häufig vorhanden. Zwei Wiesen weiter das Helmknabenkraut, daneben, unscheinbar und nur zu entdecken, wenn man es kennt, das Zweiblatt. War mir neu, dass es hier wächst, ich kannte es aus der Alpengegend. Mein Glück war vollkommen, als ich vor dem Fliegenragwurz stand, den kannte ich nur von Abbildungen. Nebenher gab es die Kreuzblume, Osterluzei, Nachtviolen, Ochsenzunge und mehrere Sorten Ehrenpreis. Der Weg dauerte länger als geplant, so bin ich im Anschluss schnell heimgeradelt, hab die Sporttasche geschnappt, für eine Planrunde reichte es gerade noch, für Sauna nicht mehr. Irgendwie war der Frühling so zauberhaft, ich hatte noch Elan, wollte nicht drinnen bleiben, hab mir das Fahrrad geschnappt und bin über die Felder. Mit einem Halt am Bühler Bücherschrank, da fing das Verhängnis an und mein Rucksack war ziemlich voll. Am Rottenburger Schrank war ich heimzu auch, nur mal schauen, wieder blieb mir allerhand an den Fingern kleben, irgendwie bin ich zu Hause angekommen mit allen Büchern, gar nicht leicht, mit einem Stapel unterm Arm Rad zu fahren.
Der Anlass für den Entschluss zu dieser Rubrik, das möchte ich nachtragen, war beim Lesen von Roald Dahls "Ungewöhnlichen Geschichten" zu Stande gekommen. 25 kurze Erzählungen, jede mit einer köstlich unerwarteten Wendung oder mehreren, alle hinreißend gut erzählt, das wollte ich nicht für mich behalten. Ein Beispiel? Ein Antiquitätenhändler gibt sich als Pfarrer aus, fährt übers Land, um ungebildeten Bauern alte, wertvolle Möbel billig abzuluchsen. Unerwartet stößt er auf eine originale Chippendalekommode, es wäre die dritte überhaupt, zwar weiß angestrichen, aber unverkennbar. Da er sie haben will, den drei Bauern aber nicht viel zahlen will, redet er sie klein, sagt, ach Gottchen, eigentlich brauch ich nur die Füße. Die Bauern willigen nach einigem Gefeilsche ein, 50 Pfund sollen sie bekommen, er holt sein Auto, um sie einzuladen. Auf dem Weg träumt er vom vielen Geld, vom Ruhm des Entdeckers, er ist gerade eins mit seiner Zukunft. Die Bauern bekommen Schiss, dass das Teil nicht in sein Auto passt, das Geld wollen sie unbedingt. Sie überlegen, holen die Säge und schneiden die Beine runter, als sie dabei sind, machen sie den Rest zu Kleinholz.

   Bocksriemenzunge

   Helmknabenkraut

   Zweiblatt

   Fliegenragwurz

   Osterluzei

   Ehrenpreis

   Kreuzblume

   Die Beute

 

Mittwoch, 18. 5. 2022

Am Morgen, zum Frühstück las ich das kleine Buch von Skármeta aus und wollte eigentlich gleich wieder von vorn anfangen. Das Buch schildert die letzte Zeit vor dem Putsch in Chile, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Allende vom Militär gemordet wurde, endet in den Tagen nach den Putsch mit dem Sterben des Dichters Neruda. Das war die eingearbeitete politische Situation, wichtiger noch war das alltägliche Kleinklein. Der weltberühmte Poet (Canto General stammt aus seiner Feder, wurde von Theodorakis vertont) hatte sich zurückgezogen auf das Dorf, kam gut zurecht mit den Menschen da, sie auch mit ihm. Mit dem Postboten freundete er sich an, es entstand Gespräch und Anteilnahme. Einer der schönsten Momente ist, wie der Schriftsteller die Dorfwirtin ein Gedicht für wahr und richtig befinden lässt, es geht um die feurige Beschreibung der nackten Schönheit einer Tochter, der Postbote singt mit diesen Versen die Tochter der Wirtin an, eleganter und großzügiger ist selten ein Dichter von einem Schriftsteller gelobt, gewürdigt worden. Bei aller Tragik des Verlaufes, so liebevoll empathisch ist der ganze Roman durchwirkt und hat mir beim Lesen Genuss bereitet, mich mehrfach zum Loskichern gebracht.
Mein Frühstück findet in Bad Reichenhall statt, bin bei der Enkelfamilie. Dadurch hab ich gar nicht viel Zeit zum Lesen, zumal Eva, weil sie kränkelt, zu Hause blieb, nur Hannes ging in die Kita. Ich bin also zeitintensiv am Spielen, wir bauen wirklich lustige Türme und Mauern und Häuser, oder wir sind an der Schaukel oder eben spazieren, in der Stadt, in den Parkanlagen, an der Saalach. Was alles blüht, das ist alle Jahre wieder sehr überzeugend. Zumal das eine Gegend ist, da wachsen die Knabenkräuter und Zweiblätter auf den Wiesen vor den Wohnhäusern.

 

Freitag, 17. 6. 2022

Gelesen hab ich, immer weiter, mittlerweile ist das sechste Buch fast fertig. Am Schreiben hing es. Oder um das besser zu begründen, es fehlte die Zeit. Das scheint ein Dauerthema in meinem Leben zu sein. Daran habe ich einen Anteil, kann es nicht nur auf die Arbeit und den Sport schieben, auch das Lesen kostet diese und jene vielen Stunden, dazu kommt eine ephemer ausbrechende Unlust, überhaupt was zu tun. Also sich zu regen. Das Bett zu verlassen oder das Sofa, weil diesen Halbstunden im Nichtstun vertrödelt eine süchtigmachende Köstlichkeit inne wohnt. Ist es abends soweit, dass Stillheit ausbricht, geht manches Mal ein gutes Stück der Nacht, die eigentlich dem Schlafe dienen soll, verloren. So ist das heutige Aufraffen, zu liefern, nicht gering zu achten.
Vor Wochen beendete ich lesend den Roman "Der Ruf des Kuckucks" von Robert Galbraith. Ich hab mir das aus dem Bücherschrank gezuppelt, weil der Name des Schriftstellers als Synonym für J. K. Rowling steht, und die Harry-Potter-Bücher hab ich in guter Erinnerung. Es geht um den vermeintlichen Selbstmord eines sehr jungen und schönen und bekannten Models Lula Landry, ihr Stiefbruder gibt Ermittlungen in Auftrag bei dem wenig erfolgreichen Privatdetektiv Cormoran Strike. Der ist aus Jugendzeiten irgendwie verstrickt mit der Familie, war Soldat in Afghanistan und hat dorther gewisse Schäden an der Persönlichkeit, mit denen er sich wacker auseinandersetzt. Das Buch läppert vor sich hin, schildert die Welt der Reichen und Schönen so, dass sie mich nicht weiter interessiert, dabei ist es gut erzählt, braucht aber knapp 600 Seiten, um dann fulminant aufzulösen. Der Ermittler ist wie in den meisten Fällen bisschen zu dick, außer Form, raucht, trinkt zu viel, rutscht immer mal ins Chaos, keine Ahnung, warum Film- oder Bucherdetektive zuverlässig so schlurrig über die Welt wandeln und dann trotzdem erfolgreich sind. Ihm zur Seite steht eine erdachte Figur, die Arbeitssuchende Robin, die ungeahnte Fähigkeiten einsetzt, um die Geschichte am Laufen zu halten. Für mich verlockend war die Eingangssequenz zum ersten Buch Harry Potter, die erzählerisch brillant ist herrlich frisch das Leben in einer Mugglfamilie schildert, diese Qualität fand ich hier nicht. Eher eine zurückhaltende Empfehlung, was für Leser mit  viel freier Zeit.

 

Jojo Moyes, "Die Frauen von Kilcarrion", versehen mit dem Etikett SPIEGELBESTSELLER, darauf fall ich jedesmal rein. Wenn der Bepper drauf ist, nehm ich´s mit. Irgendwelche Geheimnisse sind angekündigt, so weit bin ich nicht gekommen. Wegen überwältigender Harmlosigkeit musste ich die Lektüre nach ca 60 Seiten beenden, nachdem ich vorher schon solche Gelüste hatte, mich tapfer gezwungen hab, immer noch ein Stückchen zu lesen. Mir hat sich nicht erschlossen, was die Autorin mitzuteilen hat, die Nichtigkeiten läppern ohne erzählerische Finesse weiter, ich kam mir vor, als würde ich meinem Nachbarn zuschauen müssen, wie er alle Tage seine Felgen poliert. Da hab ich dann wo anders hingeschaut.

 

Samstag, 18. 6. 2022

Richtig, so schnell kann ich nicht lesen, aber es liegt noch zu beschreibender Vorrat auf Halde. Da greif ich jetzt für einen Verriss in meine reichlich gefüllte Boshaftigkeitskiste rein. Mo Hayder liefert den Thriller 2006, "Die Sekte", ein nicht ganz frischer Titel. Die Arbeitsanweisung für dieses wirre Machwerk lautete vielleicht, nimm ein paar Dachlatten und bau ein funkelndes Hochhaus. Es hat nicht funktioniert. Die Inhaltsangabe spar ich mir, man kann lesend den roten Faden schon verfolgen, obwohl eine Welt geschildert wird, mit der würde ich nicht zu tun haben wollen. Nicht sonderlich kriminell, auch sektentechnisch eher uninteressant, weil herbeikonstruiert, wahrscheinlich aus irgendwelchen Pressemeldungen über das skurrile Leben irgend welcher Vereinigungen in Amiland. Am Ende war alles ganz anders, natürlich, ein Knaller beendet die Misere. Verstörend und eindringlich, steht hinten drauf, verstörend war es schon, so was als Buch zu finden, man braucht es nicht. Wieder war es der Aufkleber vom Spiegelbestseller, der mich anlockte, ich wäre sehr neugierig, wie der da draufkommt, irgendwer muss es für gut bewertet haben.

Sonntag,19. 6. 2022

Leander Haußmann lieferte 2005 den kleinen Roman "NVA", von ihm ist auch Sonnenallee, der Kinofilm. Hier geht es um die Erlebnisse eines frisch Eingezogenen, er schöpft aus dem Fundus eigenen Erlebens und Erleidens. Köstlich werden die unzähligen Stumpfheiten des Dienstes an der sozialistischen Heimat beschrieben, die Schikanen der Dienstälteren an den Neuen, die Beklopptheiten der Agitation durch die Politoffiziere, die innere Verwahrlosung der ganzen Truppe durch die absolut sinnfreie Gestaltung der Grundausbildung und Zeitverbringung, immerhin 18 Monate des noch sehr jungen Lebens. Aufschlussreich, wie man einfach durch blöde Umstände zu kleinen und großen Bestrafungen kommt. Ein Zeitbild, das nachvollziehbar beschreibt, trotzdem merken lässt, dass es entstand, als der Mist vorbei war, keine Gefahr mehr drohte. Von Reiner Kunze gibt es "Die wunderbaren Jahre", eine 1975 entstandene Sammlung von Texten über das Lebensgefühl junger Menschen in der DDR, da wird eine andere Intensität und Authentizität spürbar, die existentielle Bedrohung durch Gängelung und politische Indoktrination wird markant deutlich. Hier bei Haußmann geht es oft lustig zu, das ist an sich kein Schaden, aber verfehlt manchmal die Inhaltlichkeit. Besonders stieß ich mich an der Erwähnung der Bestrafung von Soldat Krüger, der für eine Zeit nach Schwedt musste, beiläufig wird klar, dass dort in der unüblich kurzen Verweilung seine Persönlichkeit endete. Das Buch mäandert zwischen Unterhaltung und Zeitdokument unentschlossen hin und her, vielleicht ging es um eine gesamtdeutsche Lesbarkeit.

Dienstag, 5. 7. 2022

Was ist passiert? Es gab drei lesefreie Tage, nicht buchfrei, aber keine einzige Zeile wurde erfasst, gar verstanden, obwohl ich beim Wechseln der Sofaplätze das Buch dabei hatte. Wäre das ab hier immer so, könnte man von einem gehörigen Einschnitt sprechen, so war es Corona, und zum Glück ging das vorbei bis zum Zustand jetzt, wo Lesen wieder lustvoll funktioniert. Ungefähr der 70. Test war eindeutig positiv, bestätigt von den begleitenden Umständen, die mich zum beschwerlichen Kriechtier verwandelt hatten. Das aktuelle Buch ist von Peter Rühmkorf, es heißt "Der Hüter des Misthaufens", darin sind aufgeklärte Märchen, eins schöner als das andere, zusammengefasst. Mir fehlen noch drei, deswegen bespreche ich es weiter hinten.
Hier soll es um einen Krimi von Jeffery Deaver gehen, "Der Insektensammler". Endlich mal ein nahezu klischeefreies Buch mit einem Ermittler, der seit einem Unfall gelähmt im Rollstuhl sitzt, seiner Assistentin und Freundin, die vor Ort geht und sich in die Gefahr stürzt, und einem Hauptverdächtigen, der einen Haufen Macken hat, aber wenig Dreck am Stecken. Die Geschichte wendet mehrmals, auch sehr unerwartet, es stellt sich heraus, die örtliche Polizeibehörde ist gesteuert von einem Konzernchef, der aus Profitgründen gegen alle guten Sitten und viele Gesetze verstößt und vor nichts zurückschreckt. Der vermeintlich Schuldige, ein Jugendlicher, der sich so für die Welt der Insekten interessiert und einliest, dass er Schutz- und Tarnfähigkeiten der Krabbeltiere für sich selbst nutzen kann, das ist hochspannend zu lesen, bündelt in seiner Figur die ganze Geschichte als eigentliches Opfer, dem gerade rechtzeitig die Ermittlerin zur Seite springt. Nebenher entsteht ein Lehrstück, wie der Konflikt zwischen Profit und Umwelt mit dem Einverständnis, bzw. der aktiven Beteiligung einer ganzen Bevölkerung ausgeht, seit Menschengedenken ausgeht, wir sehen die übliche Sackgasse. Eine Leseempfehlung.

Nebenher läuft eine Mucke, ein Konzert von Neil Young aus 2014, da ist er schon fast siebzig, er tritt solo auf, kann anderthalb Stunden einen 1a Titel nach dem andern darbieten, singt, spielt Piano oder Gitarre und Mundharmonika. Die Stücke hat er alle selbst geschrieben, auch das noch. Für mich eine der Superlegenden der Musikgeschichte. Seine Melodien bleiben hängen, nicht nur bei mir, alle im Publikum können sie mitsingen und man kann hören, wie sie vergehen vor Sehnsucht und Liebe und Schönheit. Hier der Link

Mit diesem Vorhaben, gelesene Bücher kurz zu besprechen, entstand ein weiterer Vorratsstapel, nämlich der der gelesenen Bücher. Da ich nicht immer Lust oder Zeit habe, wenn ich ein Buch zuklappe, sofort zu liefern, lege ich es also in den Vorrat zum Bild machen, ist das erledigt, gibt es die Warteschleife in Sichtweite des Rechners. Wenn vier Bücher liegen, ist der Notstand da, den Idealzustand von keinem Buch hatte ich noch nicht. Deswegen heute noch ein zweiter Text: Wieder die Geschichte mit dem Aufkleber vom Spiegelbestseller ...
Veit Etzold liefert 2019 den "STAATSFEIND", Thriller steht vorn drauf, hinten in der Klappe der Hinweis auf den Werdegang des Herrn Prof. Dr. Etzold, Autor von acht Spiegelbestsellern, nebenher berät er u. a. internationale Unternehmen, das Auswärtige Amt, lehrt als Prof. für Marketing, Vertrieb und Storytelling an der Hochschule Aalen. So auf Anhieb ist er auf deren Webseite nicht zu finden.
Er beschreibt eine merkwürdige Staatsverschwörung, die mir nicht glaubhaft war, lässt seine Hauptperson, die farblos bleibt, korrupt werden, um aufzuklären, eventuell, das bleibt fast bis zum Schluss unentschieden, und schäumt das dürftige Süppchen mächtig auf durch irgendwelches Halbwissen, Raunen aus vergangenen Zeiten, Geschäftigkeiten rund um die Welt. So weit, so lala. Was mich wirklich stört, wenn jemand solch Renomee vor sich herträgt, ist die billige Behauptungslitanei, die den ganzen Murks wichtig aussehen lassen soll. Ich geb mal ein Beispiel: Auf Seite 32 lässt er eine Judith u. a. dies denken, "Doch der Staat konnte sich nicht immer auf Freiwillige verlassen, wozu nahm er schließlich Steuern ein und das zunehmend in Rekordhöhe, ohne das der Staat seinen Bürgern dafür irgendwelche Gegenleistungen brachte." Mit Verlaub, wenn solch ein Satz auftaucht und ernstgemeint daherkommt, ist es schon verkackt. Eine weitere wichtigtuerische Sequenz gefällig? ""Vollkommen richtig. Bei der Stasi war ihr Spitzname angeblich IM Erika, inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Ihr Vater, der freiwillig von Hamburg mit der Familie in den Osten ging, war der rote Pastor. Da hat sie gelernt, wie man ein System von innen zerstört. Erst die DDR. Jetzt Gesamtdeutschland. Immer mehr wissen als die anderen, kompromittierende Dinge natürlich. Genauso hat es Stasichef Mielke auch gemacht, der hatte den berühmten roten Koffer, in dem er angeblich Geheimnisse über Honeckers Naziaktivitäten während des Dritten Reiches hatte. Das hätte sich im kommunistischen, sowjettreuen Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht gut gemacht."
"Ich dachte, Honecker saß bei den Nazis im Knast. Da kann er ja nicht so viel mit den Nazis zusammengearbeitet haben."
"Tja, von uns war keiner dabei. Wer weiß?"

Er lässt das nicht irgendwie schräge Typen formulieren, sondern  Hauptakteure, die wir Lesende ernstnehmen sollen. So geht es auf allen Seiten zu, eine geraunte Behauptungskacke nach der anderen. Es macht Herrn Etzold gar nichts, zumal er auch in der banalen Beschreiberei neue Maßstäbe setzt, z. B., indem er Onlinedatenbanken leise im Halbdunkel surren lässt.
Ich hab das Dingens fertig gelesen, weil ich nicht glauben wollte, das einer so was bei einem Verlag unterbringt. Am Ende gewinnt irgendwie das Gute, so recht zufrieden hinterließ es mich nicht. Preis also für das beispielhaft und offensichtlich schlechte Buch, das man wirklich nicht lesen muss.

Freitag, 8. 7. 2022

Wenn ich so weiter mache, bleibt der Stapel ausgelesener Bücher beherrschbar. Wenn. Wie schnell solche Annahmen und Gewissheiten ins Rutschen kommen können, beschreibt Susanne Röckel in ihrer Sammlung von neun Erzählungen, die sie unter dem Titel "der käfig" um 1994 erscheinen ließ. Mit den Klarheiten ist es schon beim reinblättern rum, da erscheint der Titel so: "Der Käfig". Die titelgebende Erzählung raunt mir noch zu sehr vom harten Schicksal, in uns gefangen zu sein. In den folgenden Geschichten geht es klarer und nachvollziehbarer zur Sache, irgendeine Störung, ein kleines Vorkommnis, zu meist wiedererkennbar, weil schon selbst erlebt, lässt es Röckel entgleisen, lässt sie von kleiner zu großer Wucht gelangen und wir können zuschauen, wie ihre Figuren meist mehr als weniger aus jeder Kurve fliegen. Das Scheitern ist oft grandios, viel interessanter sind die kleinen Stationen auf dem Weg von einem funktionierenden, angepassten Leben ins Abseits. Am eindruckvollsten war mir die Erzählung "Der Unfall". Eine mitten im Leben stehende, verheiratete Frau, beruflichlich erfolgreich, fährt von einem Fest heim, hört ein kleines Geräusch, einen Bumser beim Fahren. Liest zwei Tage später von einem Unfall, ein Kind wurde überfahren, der Verursacher beging Fahrerflucht. Sie geht zur Polizei, bekennt sich schuldig, hat die Tasche zum Einsitzen schon dabei. Fühlt sich nicht ernstgenommen, soll wieder heimgehen. Der Schuldige wird gefunden, gibt die Sache zu. Da sollte bei Cordula B. wieder alles in Ordnung sein. Am Ende stirbt C. B. in der Psychiatrie, sie kommt aus der Nummer nicht mehr raus. So kanns gehen. Ich fand es anstrengend zu lesen, nicht immer konnte ich den beschriebenen Abwegen folgen. Erzählerisch geht es gediegen zu, schon die Eröffnungssequenzen in jeder der Geschichten informieren umfassend. Ein Buch für hartnäckige Leser.

 

Beide Varianten, mit und ohne Schutzumschlag, spiegeln auf verschiedene Arten treffsicher den Inhalt, drum diesmal so ausführlich.

Samstag, 16. 7. 2022

Corona ist durch, eigentlich hätte das in die andere Abteilung, die vorschnell beendete, hineingehört. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, auch nicht damit, dass es mich vollständig für zwei Tage gelegt hat. Es tat alles weh, sogar im Liegen, mir war es zu hell, Lesen ging nicht, Essen nicht, der Kaffee schmeckte fürchterlich, das erste mal seit 50 Jahren. Ich war beeindruckt, fand das Leben dieserart völlig sinnlos und hab mich an das Wissen vom Hörensagen geklammert, es geht rum. Als am dritten Tag das Sichbewegen nicht mehr wehtat, kam wieder Hoffnung auf, ich zog die Rollladen ganz hoch und fing vorsichtig an mich zu ernähren. Siehe da noch drei Tage später und immer noch mit dem Strichle bei der Positivanzeige, hab ich mir einen Kuchen selbst gebacken, hab das Buch aufgeklappt und gedacht, so kann es rumgehen.
Es waren die Märchen von Rühmkorf, genau die richtige Lektüre zum Anfangen. Wirklich Märchen, verschiedene unglaubliche Fähigkeiten kamen ins Spiel, am Ende ging es immer um den Menschen in seinen verschiedenen Betimmtheiten und das, was dabei rauskommt. Ein schönes und gültiges Weltenbild. Gut erzählt, auch oft sehr lustig, ohne klamaukig zu sein. Ein Beispiel seiner Sprachgewandtheit, er beschreibt den Tagesschlaf: "Nur gelegentlich, wenn die Müdigkeit ihn übermannte - und es bildete sich jenes unsäglich feine Häutchen aus Schlaf, das die Welt unserer Wünsche vor der Welt unsererPflichten verbirgt -, ..." Besser kann man das nicht sagen, und schon für so einen Satz lohnt sich das Buch.

Vor lauter Lesen ist der August bald rum und der Stapel zu besprechender Bücher hat ein kritisches Ausmaß gewonnen, so kommts halt, wenn man immer nur weiter liest ohne vernünftiges Innehalten. Am Ende werd ich noch vergessen, was alles drin stand. So beginnt hier der Versuch, dies Problem zu vermeiden. Schwuppdiewupp taucht da eine neue Fragestellung auf: Beginne ich mit dem zuletzt weggelegten Buch, wo der Eindruck ganz frisch ist, auf die Gefahr hin, dass Bücher, die schon lange warten, noch weiter in den Tiefen der Erinnerung, die immer auch mit einem gewissen Vergessen zu tun haben, sich mehr oder weniger Platz nehmen. Es handelt sich um ein freiwillig und selbst erzeugtes Problem, für das es mehrere Lösungen gäbe, die ich anscheinend alle nicht will. Ich könnte das Lesen lassen, könnte das Beschreiben lassen, könnte das Beschreiben disziplinierter aktuell halten, tja, da mach mal was.

21. 8 2022

Da war es schon lange ausgelesen, hätte besprochen werden müssen, blieb hängen. Dabei war es ein Lesegenuss.

Höchst präzise, manchmal poetisch von vergehender Jugend in vergehendem Staate wird erzählt, aus persönlicher Sicht, darin die Sicht auf die Entwicklungen, Verwicklungen im Europa der ersten und zweiten Vorkriegszeit. Die Möglichkeit des sich Entfernen aus der Reise Österreichs in den Faschismus bedeutet das Verlassen des ureigensten Erzählraumes. Damit sind auch die Leser weg. Immerhin war die finanzielle Möglichkeit gegeben, rauszukommen, andere endeten gemordet. Der Lebenswillen war trotzdem aufgebraucht, nach geglückter Flucht, bis Brasilien schafften sie es, 1942 setzte er zusammen mit seiner zweiten Frau den Schlusspunkt, verzweifelter Überdruss über den Zustand Europas. Da war er 61, mein Alter, hätte noch Zeit gehabt zu schreiben, es ging nicht mehr. Die Schilderungen von dem geistig freien Leben nach der Jahrhundertwende, die Vernetzung mit anderen Schreibenden und Künstlern, das Aufbrechen nach dem ersten Weltkrieg und die darauf folgende Entwicklung, als Denkverbote einsetzten, zunahmen, alles verhinderten, das ist, auch wenn es lang her ist, eine höchst lebendige, nachvollziehbare und heute mahnende Geschichtsstunde, die es in der Qualität und Intensität nicht so oft gibt. Unbedingt lesen, zumal die Sprache von solcher Schönheit und Treffgewissheit glänzt, dass das Lesen zum Vergnügen gerät.

16. 9. 2022

Ebenfalls dringend nachgereicht:

Sehr informativ, leicht zu lesen und zu verstehen, hinterher, weiß man, dass man niemals allein unterwegs ist. Die Größenverhältnisse sind verblüffend, noch mehr die schiere Menge, unvorstellbare Zahlen von kleinen Lebewesen an allen Stellen. Auf eine Körperzelle, die meine ist, kommen so viele Mitbewohner meines Leibes, dass ich mich mit diesem Wissen nicht mehr als Individuum empfinden kann, dafür akzeptiere, ein vielfältiges Biotop zu sein. Ich zitiere mal:" eine Lebensform aus 988 Spinnentieren, 100 000 000 003 009 Bakterien, 1 Mensch, 74 Amöben und 497 Madenwürmern." Ob das jetzt so ganz stimmt, das Buch kam 2000 raus, wahrscheinlich kann man mittlerweile mehr Arten benennen und auszählen, ist eigentlich egal. Jedenfalls ist mir ganz klar, dass ich beim Käckerchen ganze Heerscharen von Insassen entlasse, die sich umgehend durch die Vermehrung der verbliebenen Gesellschaften ersetzen. Neu war mir die Beschreibung einer porenbewohnenden Wurmart, ich muss lachen, wenn ich mir vorstelle, wie aus meinen Nasenkratern wie kleine Regenwürmchen rausschauen und Luft schnappen. Vielleicht. Jedenfalls ein erstaunlich gut funtionierendes Zusammenleben.

 

Endet hier, das Vorhaben funktionierte nicht.